Hans Himmelheber
Die Kraftfigur wird herangetragen

Songye-Region, 28.4.1939, SW-Negativ
Museum Rietberg Zürich, FHH 188-20

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Museum Rietberg FIKTION KONGO Sinzo Aanza Rainer Wolfsberger 31

Sinzo Aanza
The Lord is Dead, Long Life to the Lord

Demokratische Republik Kongo, 2019
Museum Rietberg Zürich, 2020.273

02 Sinzo Aanza Projet dattentat contre limage

Sinzo Aanza
Le Royaume des Cieux

2017, Installation,
verschiedene Materialien
Sinzo Aanza und Galerie Imane Farès, Paris

Sans titre 4

Sinzo Aanza
Ohne Titel

2018, verschiedene Materialien
Sinzo Aanza und Galerie Imane Farès, Paris

Sans titre 7

Sinzo Aanza
Sans titre 7

2018, Fotografie, 80 × 137 cm
Sinzo Aanza and Galerie Imane Farès, Paris

Sans titre 8

Sinzo Aanza
Sans titre 8

2018, Fotografie, 80 × 137 cm
Sinzo Aanza and Galerie Imane Farès, Paris

The Lord is Dead, Long Life to the Lord

Sinzo Aanza
17.03.2023

Die Fotos von Hans Himmelheber legen Zeugnis ab vom Ende der Unterwerfung unter die traditionelle Macht mit ihrer Kosmo­gonie, deren materialisierte Sichtweise verschiedene Macht- oder Schutzfiguren gegen die von anderen angehäuften Gewalten aufbietet – das Ganze im schützenden Machtbereich des Stammesführers oder Dorfobersten. Hier beginnt die Unterwerfung unter die neue Welt, nach den grossen Abenteuern von Forschungsreisenden, Seefahrern und Eroberern wird sie von der Kolonisation verfolgt und institutionell gefestigt. Besonders betroffen gemacht hat mich das Foto dieses Mannes, der eine grosse Kraftfigur anschleppt, um sie an einen Kunsthändler zu verkaufen. Seine Beweggründe sind, wie so oft in der damaligen Zeit, gewiss Steuerforderungen oder schlicht die Notwendigkeit, die neuen Herausforderungen des Lebens in den sogenannten «Zusammenschlüssen ausserhalb des Gewohnheitsrechts» zu meistern, wo die Menschen gemäss dem kolonialen Projekt zusammenleben, dem sie als Träger, Soldaten, Arbeiter, Steuereintreiber etc. gedient haben, dienen oder zu dienen hoffen. Die Begegnung mit dem Westen löste für diese Menschen so etwas wie eine grosse Wirtschaftskrise aus, als die Elemente, die in der Vorstellungswelt ihrer Gesellschaften ihren Reichtum ausmachten, von heute auf morgen als Ramsch galten. Das Foto dokumentiert das Ausmass der Umwälzungen in der kolonialen Situation, in deren Folge die Spiritualität dahingehend neugeordnet wird, dass das Unsichtbare – zu dem der grosse Fetisch auf den Schultern des Mannes einen Zugang darstellt – ersetzt wird durch einen poetischen und politischen Konsens, der die Spiritualität, die Erziehung und die Einbindung in das Ausbeutungsprojekt beinhalten soll. Die fünf Bücher Mose im Kern des Christentums bestehen aus einer Erzählung des Ursprungs, der Schöpfungsgeschichte, gefolgt von menschlichen und göttlichen Legenden, abgeschlossen durch das Gesetz, die Notwendigkeit einer Organisation oder besser des Gehorsams gegenüber der neuen Ordnung. Fortan ist dies die gütlichste Form, die der Rechtsstaat kennt, um die Macht zu rauben, daher die planetarische Bestimmung dieser Erzählung, die auch heute noch den meisten Staatsapparaten zugrunde liegt.

Als Kunsthändler steht Himmelheber zwangsläufig ausserhalb des Geschehens, und seine Fotos wurden in der gleichen Haltung aufgenommen, wie Joseph Conrad seinen berühmten Roman Das Herz der Finsternis verfasste. Diese besteht im oberflächlichen Streifen der Lage mit dem einzigen Anliegen, eine Erzählung daraus zu stiften. Doch dieser im Umbruch befindliche Raum wird den aus ihm entstandenen Erzählungen folgen und daran seinen Transformationsprozess nähren. In den Augen der Kolonialverwaltung wird dieser Raum vom Herz der Finsternis zum Reich der Stille werden; sein Kunsthandwerk wird sich ebenso wie sein Handel in den neu gegründeten urbanen Zentren, die vermeintlich dem Stammesleben entfremdet sind, fortan nach dem richten, was auf Hans Himmelhebers Fotos zu sehen ist: einem Markt ohne Regeln oder echte Gesetze, allein definiert von der Instabilität und der Nervosität der Angst.

Diese Arbeit folgt den Narrativen, die sich der Westen über die restliche Welt erzählte, von den grossen Abenteuern des Seehandels und der Erforschung der Welt. Diese Erzählungen leisteten ihren Beitrag zur Arbeit der kolonialen Einbindung, indem sie den von ihnen beschriebenen Orten ihrerseits eine neue Vorstellungswelt und eine neue Art auf der Welt zu sein eingaben. Und fortan war die neue Identität der Völker der ganzen Welt an die kommerziellen Bedürfnisse der grössten Wirtschaftsmächte gebunden.

Die Strassen sind Schlangen1

Sie beissen wie Schlangen
Sie zischen, sie würgen, sie schnappen, sie verschlingen
sie entleeren sich, sie übergeben sich
und du bist nicht mehr derselbe
ihre Geschichte gleicht der einer toten Schlange
als erstes erwischt dich ein Pfad
er bricht dir die Flanken, du drückst ihm die Luft ab
es ist windig
ein kleiner, staubiger, aber kompakter, entschlossener Wind
triumphiert über den Wald, der sich entfernt

Hier sind die Menschen die Götter geworden, die sie getötet haben

Wenn dich der Pfad entlässt, verschlingt dich eine Python
eine grosse Strasse aus gestampfter Erde
die Lastwagen befördert und menschliche Leiber
beladen mit Rundhölzern
mit Beuteln voller Glut und Mineralschlamm
mit welkendem Gemüse in der unbarmherzigen Sonne
mit totem und lebendem Vieh

Die Schatten schleppen sich
im Medienschauer mit der feuchten Aussprache
gezogen von Lumpen und gebeugten Silhouetten

Es heisst, sie hätten ihren Aufstieg zur Menschlichkeit niedergeknüppelt
sie hätten sich geweigert zu arbeiten
welcher Mensch weigert sich zu arbeiten, um die guten Seelen niederzumetzeln,
die ihn bitten, zu seinem eigenen Besten zu arbeiten?
Welcher Mensch sagt nein, wenn man zu ihm sagt: Arbeite, guter Freund?
Welcher Mensch sagt nein, wenn man zu ihm sagt: Ab jetzt bist du kein Kind mehr?
Wenn man zu ihm sagt: Du bist kein Tier mehr?
Arbeite!
Für dich!
Auch für mich, aber vor allem für dich selbst!
Leg dein Herz und die Träume deiner bis hier erlangten Menschlichkeit hinein.
Arbeite für dich!

Sie haben mit Hippen, Pfeilen und Stampfern getötet
sind unter Kanonen gefallen und in den heidnischen Tod gestürzt
dann kamen sie ins Leben zurück
ohne Namen, ohne Gesichter
so entstiegen die einen aus dem verwesenden Schlamm der anderen

Kinder
apathisch
reglos
fast tot
tot
gesichtslose Frauen
die eine verkümmerte Brust darbieten
staubig wie der Wind
und platt … wie die Flügel der einfallenden Fliegen
und leer … wie die Blicke, mit denen sie die saugende Apathie bedecken

Auch sie haben die Babys ihrer Nachbarn an den Füssen gepackt und ihnen an der
Flanke ihrer Ungeduld die Schädel zertrümmert
Wut ist eine unvollständige Erzählung
ungeduldig fuhren sie die Menschlichkeit der ganzen Welt an
die Menschlichkeit des Staubes
die Menschlichkeit des Wassers
die Menschlichkeit der Hügel
die Menschlichkeit der Wälder
die Menschlichkeit des Firmaments
ungeduldig drohten sie mit ihrem zierlichen Finger
und liessen ungeduldig ihre Leichen in jenem geierhaften Staub zurück

Es gibt
apathische
Kinder
Frauen und auch Männer
reglos
fast tot
tot

Die Schatten locken vom Weg ab
und man gedenkt des Opfers
zu Füssen des Vollstreckers
im Epos seiner Herrlichkeit
ist der Henker der Erbauer der Nation
nur sein Leben und sein Sterben sind das Echo der gemeinsamen Geschichte

Der Henker hat die Strassen gebaut
dann sagte er: Kommt, die Strassen müssen bewohnt werden
man muss die Strassen ernähren und sich von den Strassen ernähren

Ohne Strassen, Eisenbahnen und Schifffahrt
sind wir nichts als ein austrocknender Schlammhaufen

Kommt her, ihr umherirrenden Parasiten in der Nacht von Zeit und Bewusstsein
heute hört euer Tierleben auf
Schluss mit der existenziellen Ruhe
lasst uns der Welt diese Erde öffnen!

Die Python spuckt dich in den Schlamm einer Strasse, die dem Fieber eines tiefen Himmels
und einem akrobatischen Dorf trotzt

Der Himmel nähert sich wie ein Fluch
er regt sich, windet sich vor Schmerz, der Himmel stöhnt und sabbert
der Himmel weint und schwitzt
der Himmel höhlt die Strasse und die Felder und die Bäuche aus
und die Menschen höhlen entlang der Strasse die Erde aus
sie haben die Gottheiten entblösst
ihnen die obszönen Finger in die Körperöffnungen gesteckt
und das heilige Feuer ihrer Innereien erstickt

Sie sind nackt
den Kopf erhoben
die Arme zupackend
das Geschlecht aufrecht
wühlen sie in der Erde
wühlen mit ihrem verschlagenen Blick
wühlen mit ihrem Kopf, der eine kindische Hoffnung an der Leine führt
wühlen mit ihren frevelhaften Armen
wühlen mit ihren versessenen Geschlechtern

Der Himmel hängt so tief
der Himmel hustet so stark
der Himmel spuckt Bruchstücke seiner tuberkulösen Wolken
er ist schmutzigblau von politischen Versprechungen
schmutzigblau von der neuen Zahlungsforderung
schmutzigblau vom Recht zu verfügen, zu bestimmen, zu entnehmen, zu beseitigen,
zu korrigieren, zu dirigieren …
schmutzigblau vom unendlich Grossen und der endlosen Nichtigkeit
schmutzigblau vom gelobten und vorgefundenen Land
schmutzigblau vom Wasser und seiner Berührung der in die Erde geworfenen Körner
schmutzigblau vom Evangelium nach den Missionaren

Blau von Flutkatastrophen, Rekrutierungen, Eintreibungen
blau von frommen Vaterlandsideen und geschürzten Kleidern, um die Gottheiten zu
vergewaltigen

Das hier, Gott, ist der Durst des Menschen
ist der Hunger des Menschen
ist der unstillbare Appetit des Menschen
hier, Gott, ist der Engpass

Hier isst man die Schatten
mit Maisbrei und Palmwein

Kera liebt Ndabi, wie man einen Jungen liebt
jeden Morgen macht sie sich schön für ihn
jeden Morgen sieht er sie an ohne ein Wort, aber mit lodernden Blicken
jeden Morgen dankt sie Gott mit den Augen für die ach so beredten Blicke
jeden Morgen giesst Ndabi Palmwein ein und bringt ihn Keras Vater
in der Hoffnung sie wieder so schön zu sehen, so schön für ihn
das Dorf vernimmt Ndabis Blicke
das ganze Dorf liest in seinem Palmwein die Qualen einer scheuen Leidenschaft
Kera liebt Ndabi, wie man einen schüchternen Jungen liebt
die Monde vergehen und Ndabi sagt noch immer kein Wort
das Dorf ist ungeduldig, aber Ndabi sagt kein Wort
das Dorf rät Kera zum ersten Schritt: «Lächle häufiger, mehr, länger …
sag ihm, er soll den Jubel seiner Augen in den Mund nehmen …
sag ihm, er soll aus seinem Palmwein Worte aufsteigen lassen …
sag ihm, dass die Blume geboren wird von der Blume und vom Kuss der Bienen …
dass sich sogar die Berge, die man einsam nennt, im Tal bei den Händen halten …
sag ihm …»
Kera liebt Ndabi, wie man einen Jungen liebt
dieser Junge, sagt die Mutter zu ihr, der mit den Augen und seinem Palmwein
spricht, ist ein Gottesgeschenk
Mütter finden deutlichere Worte als Palmwein
sie betrachten die Schönheit der Flamme und nähren sie mit ihrem Atem
während die Männer diese als Letzte bemerken
wegen des Papierkriegs und des vielen Palmweins
das Dorf strömt zum Fest und bricht Ndabis Schweigen, das einsame Lodern seiner
Augen, den morgendlichen Vorwand des Palmweins …
nach den Frauen sagen die Männer ja
Ndabi lächelt mit seinen stummen Lippen und mit seinen lodernden Augen
Kera liebt ihn, wie man einen schüchternen Jungen liebt
die Nacht bricht an, mit Gesang, Tanz, Lachen, Trunkenheit … und Stiefeln!
Die Stiefel schiessen auf die stattlichen Männer
die Stiefel zünden die Strohdächer der Hütten an
die Stiefel bauen Pferche und stecken die Frauen und Kera hinein
alle anderen werden mit den Ziegen angebunden
die Stiefel sagen, dass alles gut läuft, die Umgebung sei sicher …
Kera betet für Ndabi, für die lodernde Flamme in seinen Augen, für ihren Honigmond

Sie verspricht dem Gott der lodernden Blicke, der Hochzeit und des Palmweins
dass er die Namen der Kinder wählen darf
der Kinder, die sie Ndabi gebären wird
sie betet darum, dass das Dorf bei der Geburt der Kinder singt, tanzt und lacht
der Kinder, die sie Ndabi gebären wird
energisch zerren die Stiefel erst sie aus dem Pferch, dann ihr Blumenmädchen, dann
Ndabis Mutter
Kera ist festlich geschmückt für Ndabis Blicke
die Stiefel schneiden ihr mit dem Messer die Ketten vom Hals, dann halten sie ihr die
Klinge an die Kehle
Kera tut das weh
sie weiss, dass sie nicht weinen darf, aber es tut ihr so weh
Kera weint auf die Klinge, die unter ihr Kinn gleitet
sie weint bitterlich
nicht um sich selbst …
sondern um den Schmerz, den sie Ndabi antut
um ihre Mutter, die schreit wie ein Sturm, die zitternden Hände vors Gesicht
geschlagen
um ihren Vater, dessen Kummer mit den Ziegen angeleint ist
Kera sieht, wie sich ihr Blut auf der blitzenden Klinge mit Tränen mischt
Kera sieht Ndabi die Augen schliessen
sie kann ihn aufstöhnen hören
ihr Herz bläht sich vor Liebe und Angst
Kera liebt Ndabi, wie man einen schüchternen Jungen liebt
ihn aufstöhnen zu hören verletzt sie mehr als die Klinge
Kera schliesst die Augen
die Stiefel heben sie vehement in die Höhe
ziehen sie aus
drehen sie um
drehen sie nach allen Seiten
zerlegen sie
vermengen sie mit ihrem Blumenmädchen
vermengen sie mit Ndabis Mutter
pfeffern sie
salzen sie
würzen sie noch mehr
und noch mehr
übergiessen sie mit Öl
mit Wasser
bestreuen sie mit Paprikaschoten
mit Erbsen …
mit noch mehr Pfefferkörnern
mit mehr Salz …
sie tragen sie zum Feuer, welches das Dorf für sie entzündet hat
für Ndabi und für die Kinder, denen der Gott der lodernden Blicke, der Hochzeit und
des Palmweins, der Stiefel und der Siege, im verwesten Andenken an seine
Göttlichkeit der lodernden Blicke und des Palmweins, der Stiefel und der Siege ihre
Namen geben wird …
Kera liebt Ndabi, wie man einen Jungen liebt

Hier sind die Schatten verstreuter Kothaufen im Busch
nach dem Durchmarsch der Stiefel

Ich weiss nicht, ob wir uns lieben
wie die Welle die Klippen
oder die Luft den Vogel
ich weiss nicht, ob unsere Blicke
die Unschuld unserer Herzen
im Gleichklang dahingerafft haben
ob der Eifer deiner ausgebreiteten Haare
die Konventionen um uns wegfegt
ob das Spiel unserer unsittlichen Lacher
die Vögel in den Bäumen erschreckt

Wir sind so verrückt, so einsam
so verloren, so fern …

Du weisst nicht, ob wir uns lieben, wie das Blut den Wein
ob unsere Arme Flügel sind
Barrikaden oder Brücken
du weisst nicht, ob das Rauschen des Windes
eine ferne Metapher ist
wir werden vielleicht noch leben
wir werden den Mond in unseren Händen tanzen lassen
wir werden leben
wir werden den Himmel in unsere Blicke einschliessen
und alle Winde in unser Seufzen
wir werden das Tosen des Orkans sein
und ich werde Liebe mit dir machen, in Umkehr unserer Schreckensschreie
und des vergänglichen Bebens unserer
ins Blut, in den Staub und in die Haufen der Patronenhülsen …
gefallenen Leiber

Hier …
haben die Liebesgeschichten
keinen Anfang

Die Spiegel des Lebens sind Augen, die euch nicht anschauen
und die Strassen sind Schlangen

Quelle:
Aanza, Sinzo: The Lord is Dead, Long Life to the Lord. in Nanina Guyer und Michaela Oberhofer (Hg.): Fiktion Kongo. Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart. Zürich: Museum Rietberg / Scheidegger & Spiess, 2019

Download: Katalog Fiktion Kongo (PDF)

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Aus dem Französischen von Elisabeth Müller

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