Abb 1 Shina Novalinga

Der Instagram-Feed der Aktivistin @shinanova.
© Shina Novalinga, Screenshot des Insta-Feeds.

Abb 2

Kimowan Metchewais
Cold Lake
, 2004–2006
© National Museum of the American Indian
Archives Center, Smithsonian Institution (26/9566).

Abb 3

Kimowan Metchewais
Self-portrait collage
, undated
© National Museum of the American Indian
Archives Center, Smithsonian Institution
(26/9428).

Abb 4 I am Inuit 1

Brian Adams
Jonas Mackenzie, aus der Serie «I AM INUIT»
, 2017
© Brian Adams

Abb 5 I am Inuit 2

Brian Adams
Edgar and Helen Jackson, aus der Serie «I AM INUIT»
, 2017
© Brian Adams

Abb 6 Tin Types 1

Kali Spitzer
Min-Taylor Bai-Woo, aus der Serie «Tin Types».
Eine queere, transgenderfluide Frau, nordkoreanischer,
chinesischer und französischer Herkunft. Geboren und
aufgewachsen auf Turtle Island. Sie ist Tattoo-Künstlerin
und engagiert sich in ihrer lokalen Gemeinschaft gegen
Kolonialismus. Scan einer 8 x 10 Tin Type, 2022.
© Kali Spitzer, https://www.kalispitzer.com/

Abb 7 Tin Types 2

Kali Spitzer
Sasha «taqsweblu» LaPointe, aus der Serie «Tin Types».
Coast Salish, Nooksack Tribe, Washington, USA.
Scan einer 8 x 10 Tin Type, 2015.
© Kali Spitzer, https://www.kalispitzer.com

Fotografien für die Zukunft: Die Bedeutung historischen Bildmaterials für die indigene Bevölkerung Alaskas

Sina Jenny
17.02.2023

Hans Himmelheber reiste 1986 mit Fotografien im Gepäck nach Bethel und auf die Insel Nunivak, wo er fünfzig Jahre zuvor bereits gewesen war. Zwischen 1936 und 1937 hatte er zehn Monate in der südwestlichen Region Alaskas verbracht und das Kunstschaffen der Yupik erforscht. Fünfzig Jahre später zeigte sich die Bevölkerung sehr an den alten Geschichten interessiert, die Himmelheber über das Leben in den 1930er Jahren erzählte. Als Geschenke brachte er fotografische Abzüge der damals aufgenommenen Schwarz-Weiss-Negative mit und verteilte sie zur Freude aller. Die Nachfrage danach war so gross, dass die mitgebrachten Fotos nicht ausreichten. Zurück in Deutschland musste Himmelheber weitere Abzüge anfertigen lassen, um sie nach Alaska zu schicken.1

Das grosse Interesse an den Fotografien hängt laut Igor Krupnik, Kurator für Anthropologie am Smithsonian National Museum of Natural History, mit dem Mangel an historischen Aufnahmen in Privatbesitz der lokalen Bevölkerung zusammen. Die umfangreichen Fotonachlässe durchreisender Ethnolog*innen – zu denen auch der im Museum Rietberg in Zürich aufbewahrte Fotonachlass von Hans Himmelheber gehört – befinden sich oftmals tausende Kilometer von ihrem Entstehungsort entfernt. Die fehlenden Abzüge im Privatbesitz und die asymmetrische Zugangsmöglichkeit zu den Fotonachlässen ist ein offensichtliches Problem bei der Verwendung der Fotografien als historische Quelle und Erinnerungsobjekte durch die Yupik als «source community». Die Fotografien enthalten wichtiges Wissen über Vorfahren, Ortschaften oder kulturelle Feste, die zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Kultur dienlich sein können.2

Welche Bedeutung historische Fotografien für «source communities» haben, zeigen Beispiele der First Nations in Australien oder der San in Südafrika. Auch dort stellt sich die Frage, wie der Zugang zu den kolonialen Fotoarchiven für die eigene Geschichte eingesetzt werden können.3 Gerade der Umgang mit Fotografien, die in einem gewaltvollen Kontext entstanden sind, oder konkrete Gewaltanwendung darstellen, ist umstritten. Manche fürchten eine Retraumatisierung, andere hingegen fordern eine direkte Konfrontation mit den visuellen Zeugnissen, um die koloniale Gewaltausübung zu belegen. Viele sehen das historische Bildmaterial als Möglichkeit, die indigene Perspektive aufzuzeigen und die Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern.4 Dem fotografischen Material wird dabei eine aktive Rolle zugeschrieben, wie die Fotohistorikerin Joanna Sassoon anmerkte: «Rather than seeing the photograph as image and as a passive object, it can be seen as a material document that has played an active role in history.»5

Bei den Inuit6 spielen orale Traditionen und Oraturen (im Gegensatz zu schriftlichen Literaturen) eine zentrale Rolle. Wissen wird nicht zwingend in Form von Bildern (oder Texten), sondern in Gesängen, Märchen und Erzählungen weitergegeben. Durch die Erzählungen werden Ortsbezeichnungen und lokale Gegebenheiten oder Körper- und Charaktereigenschaften von Vorfahren und Familienangehörigen im kollektiven Gedächtnis verankert.7 Der Wandel in der indigenen Lebensweise, das Verschwinden religiöser Praktiken und der Verlust von oralen Traditionen führten zu einem Wissensverlust, dem mithilfe historischer Fotografien entgegengewirkt werden kann. Neuere Ansätze des Wissenstransfers finden sich auch in den sozialen Medien.

So folgen der Influencerin und Aktivistin Shina Novalinga auf TikTok und Instagram hunderttausende Menschen, denen sie vor allem als @shinanova bekannt ist. Sie bezeichnet sich selbst als stolze Inuk-Frau und «throat singer» (Kehlkopfsängerin). Gemeinsam mit ihrer Mutter, von der sie das Kehlkopfsingen gelernt hat, führt sie diese Tradition auf den verschiedenen Plattformen fort und setzt sich lautstark für die indigene Lebensweise ein. Mit Instagram-Reels und TikTok Videos bildet sie interessierte Personen über diverse Aspekte der Inuk-Kultur weiter: Gesang, Esskultur, Bekleidung oder Gesichtstätowierung. Die mit den Plattformen verbundenen audiovisuellen Möglichkeiten bieten eine neue Form des Wissenstransfers, mithilfe derer sie Wissen über vergangene Lebensformen und kultureller Praktiken an eine junge Generation weitergibt.

Ein wichtiges Beispiel für die Wiederbelebung einer kulturellen Praktik sind die Gesichtstätowierungen, im Englischen «markings» genannt. Die Tätowierungen im Kinnbereich, auf den Wangen oder der Stirn erhielt früher eine junge Inuit-Frau, wenn sie «eine Frau wurde», sprich ihre erste Menstruation hatte. Auch Shina Novalinga besitzt eine Gesichtstätowierung, die für sie ein Zeichen des Stolzes und des kulturellen Widerstandes gegen fortwährende koloniale Strukturen und Denkmuster in der kanadischen Gesellschaft ist. Bei der Wahl des Motivs orientiert sich die neue Generation von Frauen oftmals an Fotografien ihrer Vorfahrinnen. Vielen ist es ein Bedürfnis, eine ähnliche Tätowierung wie ihre Grossmutter oder Urgrossmutter zu tragen und sich in die Linie ihrer Vorfahren einzureihen.8

Das Beispiel der Gesichtstätowierung zeigt, wie Fotografien jüngeren Generationen als Wissensträger dienen, und es verdeutlicht die Dringlichkeit, das visuelle Material aus der Region mit der Region selbst zu verknüpfen. Entweder durch Digitalisierung oder physische Rückführung: die fotografischen Bestände sollten der indigenen Bevölkerung zugänglich gemacht werden, denn die Archive können dafür genutzt werden, Altes wiederzubeleben oder aber zu neuen Identitäten beizutragen. Der Kurator und Autor Paolo Bianchi schreibt zur Erinnerungsfunktion von Archiven: «Das Archiv ist ein Paradox: Indem es Erinnerungen speichert, dient es der Zukunft – das ist sein Wert, seine Qualität und sein Sinn.»9

Wie das Neue aus Altem geschaffen werden kann, beschäftigt den Künstler Kimowan Metchewais. Er erstellt aus historischem Material und zeitgenössischen Aufnahmen Mixed-Media-Kompositionen und Fotocollagen. Er komponiert historische Stadt- und Naturaufnahmen, Portraits von Plains-Ältesten und Fotografien aus der Populärkultur zu neuen visuellen Zeugnissen. Sein bekanntes Werk, die «Cold Lake»-Serie (2004-2006), besteht aus Fotografien von Kindern und Erwachsenen aus seiner Heimat, der Cold Lake First Nation in der kanadischen Provinz Alberta. Die Bilder zeigen Personen in alltäglichen Szenen und sind laut dem Künstler «Post-Curtis-Porträts», die ungestellt und frei von ethnografischem Ballast sein sollen. Er spielt hier auf den bekannten Fotografen Edward Curtis an, dessen zwanzigbändige Reihe «The North American Indian» (1907-1930) einen fortdauernden Einfluss auf die stereotype Imagination der indigenen Bevölkerung hat. Kimowan Metchewais versucht, in seinem künstlerischen Schaffen die festgefahrene Darstellung indigener Realität zu durchbrechen und visuelle Muster zu hinterfragen: Was macht eine indigene Person zu dem, was sie ist?10

Dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und indigenen Identität über die Aneignung und Umdeutung historischen Bildmaterials hinausgehen kann, zeigt das Projekt des Fotografen Brian Adams. Er initiierte «I AM INUIT», für das er rund zwanzig Siedlungen in Alaska besuchte und die individuellen Geschichten, Träume und Schicksale der indigenen Bevölkerung dokumentierte. Die Portraitserie soll das Verständnis für das Leben in der Polarregion fördern, Wissen vermitteln und dabei helfen, die vorherrschenden Stereotype abzubauen. Allzu oft etwa greifen Medien bei ihrer Berichterstattung über die Region auf historisches Bildmaterial zurück, anstatt die zeitgenössischen Gesichter Alaskas zu zeigen. Dem möchte auch die von Brian Adams mitbegründete Plattform «Indigenous Photograph» entgegenwirken. Die indigenen Medienschaffenden möchten einen neuen Bildkanon schaffen, der die komplexe Lebensrealität in ihrer Verflechtung von Tradition und Moderne aufzeigt.11

Kali Spitzer, ebenfalls Mitglied der Plattform «Indigenous Photograph», porträtiert BIPOC-, Queer- und Trans-Menschen und schafft in einem kollaborativen Prozess mit den Personen neue, selbstbestimmte Darstellungen. Kalis Wunsch ist es, die visuelle Geschichte indigener Körper jenseits der kolonialen Sichtweise neu zu schreiben. In ihrer «Tin Types»-Serie kontrastiert sie die weiblichen, trans oder non-binären Personen mit der Materialität der historischen Fotomethode, der Ferrotypie, wodurch der oder die Betrachter*in mit den eigenen Vorurteilen konfrontiert wird. Denn aufgrund der historisierenden Materialität erwartet die Betrachterin zunächst exotische und erotisierende Darstellungen, sieht dann aber emanzipierte und diverse Personen auf den Fotos.12 Brian Adams und Kali Spitzer sind nur zwei von einer Vielzahl an Kreativschaffenden, welche eine neue, zeitgenössische Definition von Kultur, Geschlecht und indigener Identität im Medium der Fotografie vorschlagen.

Die Fotografien aus Alaska im Nachlass von Hans Himmelheber haben ein grosses Potenzial, sowohl als Quellen als auch als Erinnerungsobjekte. Die Mehrheit der Fotografien zeugen von einer relativen Unvoreingenommenheit gegenüber der indigenen Bevölkerung. Es sind spontane Zeugnisse der damaligen Zeit und deren Menschen, die Hans Himmelheber in ungestellten Szenen beim Kunstschaffen oder im Alltag festhielt. Die Wahl der Sujets und die Bildkomposition sind teilweise durch den kolonialen Blick geformt. Eine detaillierte Analyse der Machtsymmetrien in der Masterarbeit «Schnappschuss, Objekt, Erinnerung» zeigte aber, dass sich Fotograf und Fotografierte auf Augenhöhe begegneten und die Aufnahmesituation gemeinsam gestalteten.13 Aufgrund ihrer speziellen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte ist zu hoffen, dass mit dem fotografischen Material in Zukunft Brücken zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen der Schweiz und Alaska geschlagen werden.


Literatur
Adams, Brian, I AM INUIT, 2017, Benteli.

Andrew, Brook und Neath, Jessica, «Encounters with Legacy Images: Decolonizing and Re-imagining Photographic Evidence from the Colonial Archive», in: History of Photography 42, 2018, 217–238.

Bianchi, Paolo, «Das Archiv als Weltgarten. Garten–Gärtner–Gedächtnis», in: Kunstforum 146, 1999, 55–113.

Jenny, Sina, Schnappschuss, Objekt, Erinnerung. Eine Bestandesanalyse der Alaskafotografien von Hans Himmelheber 1936/37, (unveröffentlichte Masterarbeit) 2019, 71–76.

Krupnik, Igor und Mikhailova, Elena, «Landscapes, Faces, and Memories: Eskimo Photography of Aleksandr Forshtein 1927-1929», in: Alaska Journal of Anthropology 4, 2006, 92–112.

Kasfir Littlefield, Sidney, «Cast, Miscast. The Curator’s Dilemma», in: African Arts 30, 1997, 1–93.

Green, Christopher: Kimowan Metchewais’s Search for Visual Sovereignty, in: aperture, 24.09.2020. <; [Stand: 1.11.2022].

Grunt Gallery: An Exploration of Resilience and Resistance by Kali Spitzer, 2019. <; [Stand: 1.11.2022].

Hughes, Art: Native Perspectives from Behind the Lense, in: Native American Calling, 7.05.2018. <https://www.nativeamericacalli... /monday-may-7-2018-native- perspectives-from-behind-the-lens/> [Stand: 1.11.2022].

Lydon, Jane, «Democratising the photographic archive», in: Kirsty Reid und Fiona Paisley (Hg.): Sources and Methods in Histories of Colonialism, London/New York 2017, 13–31.

Sassoon, Joanna, «Photographic Materiality in Age of Digital Reproduction», in: Elizabeth Edwards und Janice Hart (Hg.): Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, London/New York 2005, 186–201.

Warden, Allison Akootchook Warden: Traditional Markings, 2022. https://www.allisonwarden.com/... [Stand 1.11.2022].

Disclaimer

Diese Seite enthält sensible Inhalte. Um mehr zu erfahren, klicken Sie hier.

This page contains sensitive content. To learn more click here.

Cette page contient des contenus sensibles. Pour en savoir plus, cliquez ici.