Fiktion Kongo
Die Ausstellung FIKTION KONGO zeigte, wie Kunstschaffende – früher wie heute – sich kritisch mit den Auswirkungen von Kolonialzeit, Missionierung und Welthandel auseinandersetzen. Den historischen Objekten und Fotografien aus dem kolonialen Archiv Himmelheber standen aktuelle Positionen von Künstlerinnen und Künstlern gegenüber.
Nanina Guyer, Michaela Oberhofer
17.03.2023
Ausgangspunkt der Ausstellung FIKTION KONGO – Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart (2019) bildeten die Objekte und Fotografien, die der Kunstethnologe Hans Himmelheber von seiner Reise 1938/39 in die damalige Kolonie Belgisch Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) mitbrachte. Die farbigen Masken, Kraftfiguren und kunstvoll gestalteten Dinge des täglichen Gebrauchs zeugen von der Ästhetik und Bedeutung des künstlerischen Schaffens der damaligen Zeit. Sein fotografischer Nachlass ist eine einmalige Momentaufnahme der ästhetischen und kulturellen Praxis im Kongo der 1930er Jahre und dokumentiert die gesellschaftlichen Umbrüche während der Hochphase der belgischen Kolonialherrschaft. Das schriftliche und visuelle Archiv von Hans Himmelheber spiegelt aber auch seine eigenen, vom damaligen Zeitgeist geprägten Vorstellungen über den Kongo wider.
Angesichts der aktuellen Debatten über koloniale Sammlungen stellte sich für uns als Kuratorinnen heute mehr denn je die Frage zum zeitgemässen Umgang mit Objekten aus Afrika, die ihres kulturellen Umfelds entrissen und ihrer ursprünglichen Stimme beraubt worden sind. Sie waren nie für einen Museumskontext gedacht und schaffen daher ein kuratorisches Dilemma, das auch am Anfang unserer Überlegungen zu FIKTION KONGO stand.
Die Ausstellung Fiktion Kongo stellte unseres Erachtens einen möglichen Weg dar, die Deutungshoheit des westlichen Kunstdiskurses – zumindest ansatzweise – zu durchbrechen und den Blick für alternative Erzählungen und Vorstellungswelten zur kongolesischen Geschichte und Gegenwart zu öffnen. Dazu luden wir sechs zeitgenössische Künstler*innen aus dem Kongo und seiner Diaspora eingeladen, sich mit dem Archiv von Hans Himmelheber zu beschäftigen: Sinzo Aanza, Sammy Baloji, Fiona Bobo, Michèle Magema, Yves Sambu und David Shongo. In Reaktion auf die historischen Objekte, Fotografien und Texte von Hans Himmelheber entstanden neue Kunstwerke, die zugleich die alte Kunst und ihren Erwerb sowie das Archiv und seine Entstehung im Kontext der Kolonisierung thematisieren, kommentieren und damit aktualisieren. Die Kunstwerke überführen die historischen Objekte und Fotografien in einen Gegenwartskontext und machen die im Archiv unsichtbaren globalen Verstrickungen des Kongo damals und heute greifbar.
Während der intensiven Gespräche mit Sinzo Aanza und Sammy Baloji hinterfragten wir immer wieder kritisch unsere eigene Perspektive. Ein Satz, der besonders oft fiel, war: «Le Congo, c’est une fiction». Diese implizite Aufforderung, die Vergangenheit und Gegenwart des Kongo je nach Akteur, Zeit und Ort als konstruiert und imaginiert wahrzunehmen, sollte zum Leidgedanken unseres Projektes werden.
«Ankommen und Blickwechsel»
Zu Beginn der Ausstellung wurden die Besucher*innen mit der multimedialen Projektion «Ankommen und Blickwechsel» mit auf die Reise genommen, die Hans Himmelheber vor achtzig Jahren im kolonialen Kongo unternahm.

Plan der Ausstellung
© Museum Rieberg Zürich
Zwischen Mai 1938 und Juli 1939 war er – teils in der zur Kolonialzeit üblichen Hängematte (Tipoye genannt) getragen – in der Region Kasaï und Katanga unterwegs. In seinem Tagebuch und seinen Fotografien lässt sich nachvollziehen, wie beschwerlich das Reisen damals war. Gleichzeitig hinterfragte die Projektion die afrikanische Agency bei dieser Begegnung. Unsere Idee war dabei, dass die Besuchenden in einer Mischung aus Neugier und Unbehagen in die (koloniale) Geschichte und Kunstszene des Kongo eintauchten.
«Design und Eleganz»
Den Hauptteil der Ausstellung bildeten drei Bereiche, in denen die Ästhetik und Bedeutung des künstlerischen Schaffens thematisiert wurden. Dabei waren die Werke und Fotografien aus den 1930er Jahren ausgewählten zeitgenössischen Positionen gegenübergestellt. Der erste Bereich «Design und Eleganz» war prunkvoll gestalteten Alltags- und Prestigegegenständen verschiedener Kuba-Gruppen aus Holz, Glasperlen und Kaurischnecken gewidmet. Die abstrakten Formen und Muster der über sechs Meter langen Tanzstoffe aus Raffia hatten bereits Künstler wie Paul Klee, Pablo Picasso oder Henri Matisse inspiriert. Himmelheber fotografierte 1938/39 sowohl die Herstellung als auch den Gebrauch der Stoffe bei den Tänzen der Frauen und Männer.
In einem Artikel in der Zeitschrift Brousse dokumentierte er die grosse Bedeutung von kunstvoll verzierten Accessoires und elegantem Auftritten bei den Bakuba. Dies fand seit der Kolonialzeit im extravaganten Lebensstil der modisch gekleideten Sapeurs seine Fortführung. In der Ausstellung waren zum einen Bilder von Sapeurs, die der Fotograf Yves Sambu in Kinshasa porträtiert hatte, mit historischen Aufnahmen von Himmelheber kombiniert. Für manch einen überraschend war das künstlerische Rechercheprojekt von Fiona Bobo, die zusammen mit Fabrice Mawete die La Sape-Szene in Zürich und Umgebung ins Licht der Öffentlichkeit brachte.
«Power und Politik»
Im zweiten Bereich «Power und Politik» stand die Wirkmacht und politische Dimension von Figuren und Masken im Zentrum. In der Vergangenheit beeinflusste Kolonialismus und Missionierung die religiösen und politischen Machtverhältnisse sowie die damit einhergehenden Künste, sei es, dass Geheimgesellschaften verboten wurden, neue Kulte entstanden oder Kunst als Symbol des Widerstands diente. Darüber hinaus wurden die Mangaaka bzw. Nkisi genannten Kraftfiguren durch magische Substanzen und Materialien aufgeladen und damit ermächtigt, Krankheiten zu heilen, Unglück abzuwenden oder böse Mächte aufzuspüren.
Das Innenleben der Figuren war dabei genauso wichtig wie ihr Äusseres, was in der Ausstellung durch neueste bildgebende Verfahren sichtbar gemacht wird.
Der in Kinshasa lebende Künstler Hilary Kuyangiko Balu transformiert alte Kraftfiguren mit Elektroschrott und erschafft damit eine düstere Zukunftsvision des von Konsum und globalem Kapital geprägten Kongo.
Sammy Baloji hinterfragt hingegen die europäische Sammelpraxis, wenn Objekte in Museum ihres kulturellen Kontextes beraubt wurden, und begibt sich auf die Suche nach neuen Erinnerungsebenen, um den Objekten und Fotografien von Himmelheber wieder eine Stimme zu geben.
«Performance und Initiation»
Im Bereich «Performance und Initiation» standen performative Kunstwerke wie Masken und Kostüme der Pende, Yaka und Chokwe im Vordergrund. Die farbenprächtigen Maskengestalten traten zur Mukanda-Initiation auf, bei der sich bis heute junge Knaben während einer Zeit der Prüfungen auf ihre zukünftige Rolle als Männer vorbereiten. Dabei wurde beispielsweise von den Künstlern der Yaka-Masken erwartet, möglichst kreativ und innovativ zu sein. In den Performances, die auch Himmelheber in seinen Fotoserien dokumentiert hatte, kommen lokale Schönheitsideale und Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zum Ausdruck, aber auch Erotik und Humor. Sowohl der Künstler Steve Bandoma als auch Aimé Mpane, die beide in Kinshasa leben, beziehen sich auf die ungewöhnliche, da asymmetrische Mbangu-Maske der Pende. Während Bandoma in seinem Gemälde Papotage («Geschwätz») die christliche Missionierung hinterfragt, kommentiert Mpane in seinen Doppelportraits die Rezeption der Kunst Afrikas in der Avantgarde.
«Kunsterwerb und Forschung»
Über diese drei Bereiche hinaus thematisierte die Ausstellung in einer multimedialen Installation «Kunsterwerb und Forschung» im kolonialen Kongo. Dabei handelte es sich um die Weiterführung der intensiven, mitunter auch kontroversen Diskussionen, die wir mit Sinzo Aanza und Sammy Baloji über die Interpretation der kolonialen Fotografien von Himmelheber geführt hatten. Neben seinem wissenschaftlichen Interesse war Hans Himmelheber zur Finanzierung seiner Reisen in Afrika auf den Handel mit vor Ort erstandenen Objekten angewiesen. Im Fall von Kongo gehörten zu seinen wichtigsten Sponsoren die beiden ethnologischen Museen in Basel und Genf sowie die Weyhe Gallery in New York und die Galerie Charles Ratton in Paris. Seine 1'500 Fotografien und seine schriftlichen Dokumente geben wertvolle Einblicke in die Herstellung und die Verwendung der Artefakte, erlauben darüber hinaus aber auch Rückschlüsse über die Bedingungen, untern denen Hans Himmelheber die Objekte im Kontext der belgischen Kolonialherrschaft kaufte und nach Europa transportierte.
Die Künstlerin Michèle Magema sowie der Künstler David Shongo hinterfragen in ihren extra für die Ausstellung entstandenen Arbeiten die Fotografie im kolonialen Kongo. Auch Sinzo Aanza liess sich von einem Foto, das einem Mann zeigte, der eine grosse Kraftfigur an Himmelheber verkaufte, zu seiner Installation inspirieren. Dabei fragte er sich, wie es zu dieser Entwurzelung und Entfremdung von der eigenen Kultur in der Kolonialzeit kommen konnte.
«Meine Vision Kongo»
Im letzten Raum «Meine Vision Kongo» wurden die einzelnen Fäden der Ausstellung nochmals zusammengeführt und kommentiert. In gefilmten Interviews kamen die beteiligten Künstlerinnen und Künstler zu Wort und sprachen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Kunstschaffens im Kongo. Den Schlusspunkt setzte Monsengo Shula mit seinen populären Malereien von Satelliten, gekrönt von Figuren der traditionellen Kunst, um die Afronauten in bunten afrikanischen Textilien schweben. Der in Kinshasa lebende Künstler bezieht sich darin nicht nur auf das ambitionierte kongolesische Weltraumprogramm in den 1970er Jahren, sondern malt sich eine neue Weltordnung mit Kongo bzw. Afrika als Mittelpunkt des Kosmos aus. Ganz im Sinne von Patrice Lumumba: «Afrika wird seine eigene Geschichte schreiben und es wird nördlich und südlich der Sahara eine Geschichte des Ruhmes und der Würde sein» (1961).
«Kongo Remix»
Die Ausstellung wurde von einem dichten Veranstaltungsprogramm begleitet. In unterschiedlichsten Formaten wie Modeschauen, Vorträgen, Performances, Konzerten, Lesungen, Talks oder Filmvorführen wurden Aspekte der Ausstellung weiter vertieft. Die Reihe Look, Think, Discuss: im Dialog mit der Schweiz bot Mitgliedern der kongolesischen Community in der Schweiz die Möglichkeit, sich mit den Besuchenden über Themen wie Identität und Heimat oder Eleganz und Musik auszutauschen.
Einer der Höhepunkte war Kongo Remix, ein Tag mit Vorträgen, Performances, Konzerten, Lesungen mit Mitwirkenden aus Zürich, dem Kongo und Europa. Bei einer Performance in der Ausstellungshalle begeisterten die sogenannten Sapeure mit ihrem fantasievoll eleganten Kleidungsstil. Der Austausch mit einigen der kongolesischen Künstler*innen ging dabei über die Ausstellung hinaus und fand bei der Biennale in Lubumbashi 2022 und vor allem in der Ausstellung Look Closer (2023) und der internationalen Konferenz Reworking the Archives (2023) ihre Fortführung.